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Der Geist von 1979

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Der Geist von 1979

13-03-2019

Matt Qvortrup ist Professor für Angewandte Politikwissenschaft an der Universität von Coventry und ein Experte für Referenden. In seinem Buch The Referendum and Other Essays on Constitutional Politics untersucht er die historische Entwicklung von Referenden und deren weltweite Anwendung. Wir haben mit ihm über die Zukunft der Bürgerbeteiligung im Vereinten Königreich nach dem Brexit gesprochen.

 

Interview von Caroline Vernaillen.

Welchen Stellenwert werden Referenden im Vereinten Königreich nach dem Brexit als politisches Instrument einnehmen?

Das Zitat „Nothing has changed“ würde ich, wenn Sie erlauben, gerne als Zustandsbeschreibung anführen. Technisch gesehen würde die Zunahme von Vertragsänderungen auf EU-Ebene auch die Notwendigkeit für weitere Referenden erhöhen. Unter David Cameron wurde dieser konstitutionelle Mechanismus eingeführt, aber vor dem Hintergrund unseres baldigen Ausscheidens aus der EU wurde er fast obsolet. Aber im Allgemeinen liegt es bei der Regierung zu entscheiden, ob sie Souveränität transferieren will, was problematisch ist.

In diesem Land werden alle Referenden durch die Regierung angesetzt. Es gab einen Professor namens Samuel Finer, der sagte, dass die Regierung im Vereinigten Königreich die Regierung gleichzeitig über ihren Henker und den Zeitpunkt der Exekution entscheiden könne. Das Problem liegt nun darin, dass sie selbst darüber entscheidet, ob sie überhaupt geprüft werden will.

In Großbritannien werden Volksabstimmungen fast ausschließlich aus internen, parteipolitischen Gründen durchgeführt: Das Referendum von 1975 diente dazu, die Labour-Partei zusammenzuhalten, während das Referendum über die Wahlreform von 2011 dazu diente, die konservativ-liberale Koalition zu wahren. Das Brexit-Referendum wurde schließlich durchgeführt, damit David Cameron keine Stimmen an die UKIP verlieren würde. Es gehört zum Egoismus der Parteien.

Wenn ich ein Gesetz wählen könnte, dann sollten wir meiner Meinung nach ein Referendum im italienischen Stil durchführen, bei dem wir eine Abstimmung über ein bestehendes Gesetz fordern können, wie beim sogenannten „Il referendo abrogativo“. Ich beziehe mich immer auf das Beispiel Berlusconis, der dieses Gesetz ursprünglich verabschiedet hat und aus welchem hervorging, dass der Ministerpräsident nicht vor Gericht gebracht werden konnte. Nachdem dieses Gesetz verabschiedet worden war, sagten die Leute, dass es genug sei - "basta non piu". Nicht das Parlament stimmte im Misstrauen ab, sondern die Bevölkerung insgesamt.

 

In Ihrem Buch betrachten Sie die historische Entwicklung von Referenden. Im Vereinigten Königreich gab es mehrere Fälle von Referenden und Plebisziten. Haben sie sich im Laufe der Zeit verändert? Gibt es Trends, die Sie erkennen können?

Leider nicht wirklich. Wir hatten erst drei landesweite Referenden und alle waren parteipolitischer Natur. Unter den gegenwärtigen Umständen ist es interessant, dass es 1979 ein Referendum darüber gab, ob es in Schottland ein dezentralisiertes Parlament geben sollte. Ursprünglich wollte die Regierung das nicht, aber viele Abgeordnete betrachteten dies als Verfassungsänderung und sagten: "Wir müssten ein Referendum darüber abhalten. So war die Regierung zunächst gezwungen, ein Referendum über diesen speziellen Gesetzentwurf anzusetzen und später mussten sie dann einräumen, dass der Vorschlag auch von 40% der Wahlberechtigten unterstützt werden müsste.

Der Geist von 1979 könnte durchaus zurückkehren, vielleicht sogar schon bald. Theresa May hat gesagt, dass das Parlament kein Referendum erzwingen könne. Jedoch hat das Parlament in der Vergangenheit bereits ein Referendum erzwungen und es der Regierung aufgedrängt, welche es nicht haben wollte. Der Vorteil verfassungslos zu sein, besteht darin, dass die Regeln recht flexibel sind.

Wir haben auch einen grundlegenden Wandel vollzogen. Wir haben jetzt den sogenannten „Political Parties, Elections and Referendums Act“, in dem vorgeschrieben ist, wie die Durchführung von Volksabstimmungen zu gestalten ist. So skeptisch man gegenüber dem britischen System der Volksabstimmungen auch sein mag, eines haben wir doch: völlig gleiche Wettbewerbsbedingungen. Beide Seiten erhalten öffentliche Gelder, es gibt festgeschriebene Limits, wie viel Geld sie ausgeben können und es gibt eine gesetzliche Frist. Und, im Gegensatz zu Griechenland und Slowenien, dauert es bei uns mindestens sechs Monate bevor wir ein Referendum durchführen dürfen.  Wir haben Regeln, die sehr vernünftig sind. Es ist nur die Einleitung des Referendums, die ausschließlich auf die Veranlassung der Regierung erfolgt und ich denke, dass das Volk selbst entscheiden sollte, wann es eine Kontrolle der Regierung durchführen will.

 

Glauben Sie, dass es eine realistische Chance gibt, dass im Vereinigten Königreich ein solches System der Bürgerinitiative eingeführt wird?

Historisch gesehen sind die meisten Veränderungen tatsächlich durch politischen Opportunismus zustande gekommen. Ich denke also, dass es irgendwie von selbst passieren könnte. Oftmals vollziehen sich solche Prozesse auf eine Weise, die zuvor nicht beabsichtigt gewesen ist. Häufig denken Politiker nicht wirklich darüber nach, was sie tun. Ich würde es zwar nicht komplett ausschließen, aber es ist nichts, wofür sich viele Leute einsetzen.

David Cameron wollte die Bürgerinitiative ursprünglich nur auf der lokalen Ebene. Ich erinnere mich daran, ausgerechnet in Brüssel mit ihm gesprochen zu haben. Als er dann antrat, beschloss er, es nicht zu tun. In der britischen Politik geht es nach meiner Annahme sehr stark um Opportunismus, wie dies anderswo wohl auch der Fall sein mag. Aber hier verhalten sie sich opportunistisch ohne Verfassung.

 

Das haben wir natürlich auch in Österreich gesehen, wo sich beide Regierungsparteien in ihrem Wahlkampf zur direkten Demokratie verpflichtet hatten, sie aber dann aus dem Koalitionsvertrag herausgelassen haben.

Ja, aber wenn man zum Beispiel Italien betrachtet sollte sich Artikel 75 der Verfassung ursprünglich nur mit dem Thema Scheidung befassen. Aber sobald sie ihn eingebracht hatten, geriet es außer Kontrolle. Der beste Weg zur Einführung der Bürgerinitiative besteht meiner Meinung nach darin, sie irgendwie einzuschmuggeln, ohne dabei viel Aufmerksamkeit zu erregen.

Genau dort lag das Problem in den Niederlanden: Es dauerte lange, bis sie eingeführt wurde, und als es so weit war, wurde sie anders angewandt als erwartet. So wurde beschlossen, das Referendum nicht mehr durchzuführen. Ich hätte nicht wirklich daran geglaubt, dass es den Niederländern möglich gewesen wäre, so zu handeln. Stattdessen war ich davon überzeugt, dass die Partei D66 dagegen sein würde. Aber sie kamen irgendwie damit davon, ohne bestraft zu werden.

 

Die Botschaft dort schien wirklich zu sein, dass die Bürger*innen beim Referendum über den Assoziationsvertrag EU-Ukraine "falsch" abgestimmt hätten und die neue Regierung daraufhin beschloss, das Referendum abzuschaffen.

Ja, ich sehe das Referendum in der Ukraine auch als Ausnahmefall an, aber es war auch eine Abstimmung, bei der sich die Leute zu viel mehr äußerten als zur Frage der Abstimmung. Aber dann hatten wir die Dragnet-Charta - das Überwachungsgesetz -, die offensichtlich nicht niederländisch war. Die Niederlande haben im Grunde genommen die Menschenrechte erfunden und dann tun Sie etwas, was diese grundlegenden niederländischen Werte untergräbt, weshalb die Menschen natürlich dagegen gestimmt haben. In gewisser Weise war dies ein Musterreferendum. Die Menschen brauchen ein Veto-Recht, wenn ihre Rechte unter Druck gesetzt werden. Es war nach allem eine faire und offene Debatte und die Regierung erkannte ziemlich genau, dass sie dort außer Kontrolle war. Mein Lieblingsreferendum war also das letzte niederländische Referendum, welches sie dann aber leider gleich danach abgeschafft haben.

Professor Matt Qvortrup

Diese Fälle zeigen auch, dass die Menschen mit Anwendungspraxis beginnen, Instrumente der direkten Demokratie mehr zu schätzen und besser nutzen, ohne stellvertretend für jemand anderen abzustimmen.

Ja, ich wurde für eine Woche berühmt, als Tony Blair den „Citizen Proposal“ einführte. Das bedeutet, dass Sie eine Petition einreichen können und sich das Parlament damit befassen muss, was lächerlich ist. Zufällig fiel dieser Zeitpunkt in die gleiche Woche, in der ich einen Artikel veröffentlicht hatte, welche das Recht zur Gesetzesinitiative durch die Bürger einforderte. Während ich den Artikel schrieb, stieß ich auf einen Satz von Margaret Thatchers Bildungsminister Keith Joseph, einer Person, mit der ich normalerweise nie einer Meinung bin. Er sagte: „Wenn man den Menschen Verantwortung überträgt, werden sie verantwortlich. Wenn man ihnen die Verantwortung abnimmt, werden sie unverantwortlich". Und das war seither sozusagen mein Leitgedanke bei Referenden. Der beste Weg zur Vermittlung demokratischer Prinzipien ist immer noch, sie zu praktizieren. Es ist wie beim Tennisspielen. Du wirst besser, wenn du viel spielst. Genauso wirst du in Sachen Demokratie besser, wenn du sie öfter ausübst.

Der Guardian hat kürzlich einen Artikel veröffentlicht, der im Wesentlichen aussagt, dass Populismus schrecklich sei. Für manche Arten von Populismus, wie jener vom Typ eines Steve Banon, trifft dies sicherlich zu, aber es gibt auch den Typen des linken Populismus, welchen wir in Lateinamerika sehen. Tatsächlich führen viele dieser Beteiligungsmechanismen zu mehr Gleichberechtigung. Die Wähler*innen haben die Ungleichheiten satt und fangen an, Forderungen zu stellen. In meinem Buch gibt es ein Kapitel, in dem ich zeige, dass man überall dort, wo man Möglichkeiten zur direkten Demokratie hat, auch eher niedrigere Haushaltsdefizite hat. Die Menschen neigen dazu, nur Geld für das auszugeben, was sie brauchen. Das sind keine radikalen oder gar verrückten Instrumentalisierungsversuche von Demokratie. Meiner Meinung nach ist das nur gemäßigter und gesunder Menschenverstand.

 

In Ihrem Buch sehen Sie, wie Referenden in verschiedenen Bereichen organisiert sind. Wenn Sie sich die  Modelle im Umlauf ansehen, welches würden Sie als gutes Modell ansehen?

Urugay ist meiner Meinung nach ein gutes Beispiel. Es verwendet das italienische Modell, aber es hat eine relative hohe Schwelle. Ich halte den Fall Uruguay für sehr interessant. Im Jahr 1992 sagte der IWF, dass sie ein Sparprogramm verfolgen müssten, weil sie zu viel Geld ausgaben. Sie hielten darüber ein Referendum ab, welches scheiterte. Daraufhin sprach die politische Führung vom Konkurs des Landes.  Aber der Fall trat nicht ein, weil sie einfach nur ihre Ausgabenprioritäten ändern mussten. Also ja, mein Lieblingsmodell ist Uruguay, oder Italien, schätze ich. Uruguay ist wahrscheinlich die friedlichste, wohlhabendste und gleichberechtigte Gesellschaft Lateinamerikas, und ich denke, das geht vor allem auf diese Mechanismen zurück.

Es ist interessant, dass bei der Rede über direkte Demokratie immer jemand dabei ist der sagt, alles würde im Chaos enden. Das spannende an Referenden ist aber gerade, dass die erfolgreichsten Länder in der Regel auch diejenigen sind, welche Referenden durchführen. Norwegen ist hier eine Ausnahme, aber wegen den eigenen Ölreserven zählt es hier nicht wirklich dazu. Die innovativsten Staaten Amerikas wie Oregon, Washington und Kalifornien haben alle ein hohes Maß an direkter Demokratie. Die Schweiz hat sie natürlich. Es ist sehr schwer, Beispiele für Orte zu finden, an denen ein mehr an Demokratie zu weniger Wohlstand geführt hat. Alle diese Länder sind wirtschaftlich sehr stark und verfügen über ein hohes Maß an sozialem Wohlbefinden. Das geht nicht auf die politischen Parteien zurück. Der Grund dafür ist vielmehr, dass Politiker wegen der direkten Demokratie dazu gezwungen sind, sich zusammenzureißen.

Ich lehre auch Philosophie und habe heute Morgen Immanuel Kant unterrichtet. In seiner Aufklärung schreibt er, dass Erleuchtung darin besteht, Menschen aus ihrer selbst verschuldeten Unmündigkeit zu befreien. Du musst den Leuten erlauben, ihrer eigenen Denkfähigkeit zu vertrauen. Rate den Leuten nicht dazu, einfach der Argumentation eines anderen zu folgen. Ich glaube, darin liegt die eigentliche Bedeutung des Wortes Aufklärung, den Menschen die Fähigkeit zur eigenen Urteilskraft zu erlauben. Mehr direkte Demokratie ist in der Praxis im Grunde genommen Kantianismus - sie ist Teil der aufklärerischen Idee, Teil einer reifen Gemeinschaft zu sein. Natürlich wollte Kant auch Referenden: In seiner Schrift zum ewigen Frieden sagte er, dass wir jedes Mal, bevor wir in den Krieg ziehen, ein Referendum abhalten sollten und es würde keine Kriege mehr geben.

 

Schließlich müssen wir wieder auf den Brexit zurückkommen. Wie Sie bereits erwähnt haben, würde der Präzedenzfall für ein zweites Referendum vorliegen, aber der politische Konsens dafür scheint zu fehlen. Glauben Sie, dass es eine zweite Abstimmung geben wird?

Mein Kernargument ist im Prinzip, dass sie beim Verkauf ihres Hauses nicht einfach den Preis akzeptieren, den Ihnen der Makler vorgibt. Das wäre nicht akzeptabel. Das Volk stimmte nicht für ein No-Deal-Szenario. Boris Johnson lief während der Referendumskampagne sogar herum und sagte: „Wenn wir für den Austritt stimmen, wird es natürlich ein zweites Referendum geben. So ist es immer bei EU-Themen". Die Leute haben für ein zweites Referendum gestimmt!

Seit 2017 gibt es keine einzige Umfrage, die darauf hindeutet, dass die Menschen austreten wollen.  Ich glaube, dass es im November 2017 die letzte Umfrage gab, in welcher die Menschen den Austritt aus der EU befürworten. Die Unterstützung für den Verbleib in der EU beträgt inzwischen rund 56%. Es sollte also den Menschen erlaubt sein, zu bestätigen, worüber sie abgestimmt haben. Ob sie dann letztendlich dafür sind ist eine andere Frage. Aber ich denke, es wäre zutiefst undemokratisch, bei zustande kommen eines Deals den Leuten nicht zu erlauben, erneut abzustimmen. Ich tue mich sehr schwer dabei, nachzuvollziehen, inwiefern ein weiteres Referendum undemokratisch ein soll. Wie kann es undemokratisch sein, die Menschen nach ihrer Meinung zu fragen?

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