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Mexikos erstes nationales Plebiszit: Verwelken oder Aufblühen der direkten Demokratie in Lateinamerika?

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Mexikos erstes nationales Plebiszit: Verwelken oder Aufblühen der direkten Demokratie in Lateinamerika?

08-09-2021

Am 1. August 2021 fand in Mexiko die erste landesweite Volksbefragung statt, diese wurde von einer heftigen Kontroverse begleitet. Präsident Andrés Manuel López Obrador (allgemein bekannt als AMLO) hatte zu diesem sogenannten Plebiszit aufgerufen, um fünf ehemalige mexikanische Staatsoberhäupter für die während ihrer Amtszeit begangenen Straftaten zu verurteilen, was seiner Meinung nach der erste Schritt im Kampf gegen die Korruption wäre.

von Sayd Peñaranda

Mehr als einen Monat ist es her, dass das berüchtigte mexikanische Plebiszit stattgefunden hat. Seit seiner Ankündigung im Jahr 2020 hat dieses demokratische Verfahren eine Reihe von gegensätzlichen Gefühlen und Meinungen hervorgerufen, nicht nur innerhalb der mexikanischen Gesellschaft, sondern auch weltweit. Als kurze Erklärung: Präsident López Obrador wollte die Bürger*innen darüber abstimmen lassen, ob die ehemaligen Präsidenten Carlos Salinas (1988-1994), Ernesto Zedillo (1994 bis 2000), Vicente Fox (2000 bis 2006), Felipe Calderón (2006 bis 2012) und sein Vorgänger Enrique Peña Nieto (2012 bis 2018) verurteilt werden sollten. So wurden die Mexikaner*innen aufgerufen, über diese Frage abzustimmen: "Stimmen Sie dafür oder dagegen, dass im Einklang mit dem verfassungsrechtlichen und gesetzlichen Rahmen des Landes die entsprechenden Maßnahmen durchgeführt werden, um die politischen Entscheidungen der letzten Jahre, die von den politischen Akteuren getroffen wurden, zu untersuchen, um die Gerechtigkeit und die Rechte der möglichen Opfer zu gewährleisten?" Ursprünglich lautete die Frage etwas anders und enthielt die Namen der genannten Politiker, wurde jedoch vom Obersten Gerichtshof des Landes geändert, nachdem die vorhergehende Version als verfassungswidrig eingestuft worden war. Das Ergebnis war also diese neue zweideutige und schwammige Formulierung.

Trotz der scheinbar lobenswerten Absichten, die hinter López Obradors Plebiszit stehen, hat dieses Vorhaben die Aufmerksamkeit der internationalen Gemeinschaft, von Wissenschaftler*innen und der Zivilgesellschaft auf sich gezogen. Die Beweggründe und die Logik, die der Befragung zugrunde lagen, werden in Frage gestellt, da vermutet wird, dass dieses direktdemokratische Instrument nun einzig und allein dazu diente, die Popularität des Präsidenten zu steigern, und nicht, um die Korruption wirklich zu bekämpfen. War es tatsächlich kohärent, die Bürger*innen zu einem Prozess zu befragen, der von der Justiz durchgeführt werden muss? Aus diesem Grund wurde AMLO vorgeworfen, die demokratischen Institutionen Mexikos zu instrumentalisieren. Einfach ausgedrückt, wurde López Obrador als Populist bezeichnet.

Daher ist es unerlässlich, die Ergebnisse der Befragung und ihre möglichen langfristigen Auswirkungen zu verstehen. Um einige Schlussfolgerungen zu diesem Ereignis ziehen zu können, haben wir zwei Expert*innen zu diesem Thema gebeten, uns ihre Eindrücke mitzuteilen: Carlos Gonzáles, Forscher am Ortega & Gasset Research Institute in Mexiko, und Yanina Welp, Forscherin am Albert Hirschman Centre on Democracy in der Schweiz. Darüber hinaus wurden offizielle Mitglieder der Regierungspartei Morena kontaktiert, die sich jedoch leider nicht bei Democracy International gemeldet haben.

 

Die Nachwirkungen: Die Ergebnisse verstehen​

Insgesamt war die Wahlbeteiligung bei der Volksabstimmung gering. Von den fast 94 Millionen Mexikaner*innen, die zu den Wahlurnen gerufen wurden - von denen mindestens 40 % für das Plebiszit hätten stimmen müssen, um es verbindlich zu machen - machten nur 6,6 Millionen von ihrem Stimmrecht Gebrauch (oder etwa 7 %). Wenn man diese Zahlen aufschlüsselt, stellt man fest, dass von den letztgenannten 7 % der Bevölkerung, die ihre Stimme abgegeben haben, rund 98 % mit "Ja" und knapp 2 % mit "Nein" gestimmt haben, wie aus den offiziellen Aufzeichnungen des Nationalen Wahlinstituts von Mexiko (INE) hervorgeht. Doch wie sind diese Zahlen zu interpretieren? 

Carlos Gonzáles ist der Meinung, die niedrige Wahlbeteiligung sei in gewisser Weise normal und zu erwarten gewesen. '''Normalerweise schwankt die Beteiligung bei dieser Art von partizipativen Mechanismen zwischen 3 % und 13 % der Wählerschaft, wie wir bei der Volksbefragung in Queretaro sehen können (eine weitere öffentliche Befragung, die von AMLO kürzlich in der Stadt Queretaro durchgeführt wurde), wobei 7 % die durchschnittliche Beteiligung ist''', erklärt er. Und er fügt hinzu: " Nicht zu vergessen, dass Plebiszite, bei denen der Wille des Volkes zum Ausdruck kommt, eine Beteiligung von 50 bis 75 % erreichen können". 

Gonzáles weist jedoch auf etwas anderes hin, dem nicht die nötige Aufmerksamkeit geschenkt wurde und das daher dringend thematisiert werden muss: "Mehr als 100.000 Menschen haben gegen das Plebiszit gestimmt und niemand fragt danach. Ich glaube wirklich, dass es dafür drei Hauptgründe gibt: Mitglieder anderer Parteien, die eine Boykottkampagne organisiert haben, Menschen, die mit "Nein" gestimmt haben, um gegen die Volksbefragung selbst zu protestieren, und Menschen, die aufgrund der Zweideutigkeit der Frage einfach verwirrt waren. Leider ist es nicht möglich, diese Daten zu rekonstruieren, aber sie sollten dennoch zum Nachdenken anregen“.

Auch Yanina Welp stellt fest, dass "das Plebiszit, das die Menschen mobilisieren sollte, das Gegenteil bewirkt hat. Zunächst einmal war das Quorum für die Beteiligung nicht realistisch. Aber darüber hinaus hat dieses Referendum keine Forderung der Bürger*innen hervorgerufen. López Obrador hätte eine Verfassungsreform gegen die Korruption vorantreiben sollen, anstatt eine unnötige Volksbefragung durchzuführen, die am Ende aufgrund ihrer schlechten Ergebnisse die Menschen entmutigt und von den demokratischen Institutionen abzieht". 

Welp räumt zwar auch ein, dass diese Art von Konsultationen weniger Wähler*innen mobilisieren als beispielsweise Präsidentschafts- oder Parlamentswahlen, doch wenn es um echte demokratische soziale Forderungen geht, kann die Wahlbeteiligung steigen. Die Anreize für eine Stimmabgabe waren dieses Mal gering, so dass sich alles in einem erratischen und anormalen Plebiszit entlud, das keinen Sinn machte", schließt sie.

 

Was sind die Schlussfolgerungen und Auswirkungen des Plebiszits?​

Ob zum Guten oder zum Schlechten, man kann mit Sicherheit sagen, dass AMLOs Plebiszit einen Wendepunkt für den Einsatz von Instrumenten der direkten Demokratie nicht nur in Mexiko, sondern in ganz Lateinamerika darstellt. Aus diesem Grund ist es wichtig zu erörtern, was die möglichen Folgen sind und wie verhindert werden kann, dass Exekutive und Politiker*innen die Bevölkerung daran hindern, genau die Themen auf den Tisch zu legen, die wirklich den allgemeinen Willen verkörpern, insbesondere in Lateinamerika, wo dieses Phänomen weit verbreitet ist und Plebiszite dazu neigen, stark politisiert zu werden.

In dieser Hinsicht ist Carlos Gonzáles recht positiv gestimmt. Ungeachtet der Ergebnisse und der angewandten Verfahren, die dem Geist der Demokratie abträglich waren, sagt Gonzáles, dass nicht alles schlecht ist und dass man mit Freude die Tatsache feiern sollte, dass zumindest zum allerersten Mal ein Mechanismus der direkten Demokratie auf Bundesebene in Mexiko eingeführt wurde. Dies könnte neue Türen öffnen. Das ist die gute Seite eines Misserfolgs'', erklärt er.

Andererseits steht Yanina Welp dem Plebiszit weiterhin negativ gegenüber. Welp erklärt, dass diese demokratische Übung keine neuen oder wertvollen Ergebnisse für die Stärkung der direkten Demokratie in der Region hervorbringt. Die einzige Auswirkung dieses Plebiszits ist die Vertiefung des schlechten Images, das die Menschen gegenüber diesen Mechanismen in einem bereits politisierten Umfeld haben. In Uruguay beispielsweise können die Präsidenten diese Konsultationen nicht aktivieren, und das ist definitiv der Weg, den wir einschlagen sollten. Die Idee eines Plebiszits ist es, die Macht zu verteilen und zugänglicher zu machen, und nicht, die Politiker*innen weiter zu bestärken", so Welp.

Die von Gonzáles und Welp vorgebrachten Argumente zeigen eine unbestreitbare Wahrheit: Diese Art von Konsultationen von oben nach unten muss zumindest konkrete soziale Forderungen mobilisieren, damit fruchtbare Ergebnisse entstehen und die Demokratie wirklich aufblühen kann. In dieser Reihenfolge der Ideen sollten vorzugsweise Bottom-up-Initiativen und Petitionen auf die Tagesordnung gesetzt werden, da sie in der Regel das Ergebnis eines selbstorganisierten, von Mächten und Interessen unabhängigen Beratungsprozesses einer Gemeinschaft sind. Die Bürger*innen wissen am besten, was sie brauchen, wann sie es wollen und wie es zu erreichen ist. Es liegt noch ein langer Weg vor uns, aber im Moment gilt es, die Lehren aus diesem ersten nationalen Plebiszit in Mexiko überhaupt zu ziehen.

 

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