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Zwischen Missbrauch und politischer Krise: "Staatsbeteiligung" in Frankreich unter Macron

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Zwischen Missbrauch und politischer Krise: "Staatsbeteiligung" in Frankreich unter Macron

14-06-2023

"Es ist die Idee, dass Partizipation nicht genutzt wird, um politischen Dissens und politischen Streit zu managen. Sie wird nicht genutzt, um politische Debatten zu schlichten, sie werden auf autoritäre Art und Weise geregelt, auf eine zunehmend autoritäre Art und Weise, und die Partizipation steht am Rande des politischen Lebens und des demokratischen Lebens im Sinne der öffentlichen Meinungsverschiedenheiten. Und der demokratische Sinn dieser Beteiligung ist nirgends zu finden".

Guillaume Gourgues (Politikwissenschaftler an der Universität Lyon II)

Interview geführt von Morgan Lairy (Praktikantin bei Democracy International)

In den letzten Monaten hat Frankreich eine der größten politischen Krisen der Fünften Republik (seit 1958) durchlebt. Sie begann mit der Rentenreform und insbesondere mit der Anwendung von Artikel 49.3 der Verfassung, der die Umgehung des üblichen Gesetzgebungsverfahrens ermöglicht. Während die große Mehrheit der französischen Bevölkerung eine Reform ablehnte, die schließlich (trotz Einsprüchen beim Verfassungsrat) angenommen wurde, und die Demonstrationen unterdrückt wurden (übermäßige Gewaltanwendung, unrechtmäßige Verhaftungen, Versammlungsverbote usw.), verteidigt Präsident Emmanuel Macron weiterhin die demokratische Legitimität seiner Reform und beruft sich dabei insbesondere auf das Bürger:innenforum für Arbeit. 

Die Regierung beschränkt die nationale Debatte strikt auf dieses Forum, dessen Empfehlungen für die Regierung in keiner Weise bindend sind. Zwischen 2018 und 2019 hatte bereits eine Konsultation zu den Altersrenten stattgefunden, deren Schlussfolgerungen von der Regierung jedoch nicht befolgt wurden. Guillaume Gourgues, Politikwissenschaftler an der Universität Lyon II, spricht von einer "Verschlechterung der sozialen Demokratie". Gemeinsam mit Alice Mazeaud hat er ein Buch zu diesem Thema verfasst, das demnächst erscheint: " Une " participation d'Etat " sous contrôle. La neutralisation décisionnelle des dispositifs participatifs en France ", Revue Française de Science Politique, (74-5), 2023. Er gab mir ein Interview, um sein Fachwissen über den Einsatz der partizipativen Demokratie in Frankreich unter Macron und die Folgen für die Gesundheit unserer Demokratie zu diskutieren und zu teilen. Eine Gelegenheit, auf die Partizipation in Frankreich zurückzublicken, wie sie von der Regierung gekapert wurde und wie groß der noch zu bewältigende Weg ist.

Staatliche Beteiligung und Managementkonzeption

Was Guillaume Gourgues "staatliche Beteiligung" nennt, umfasst alle partizipativen und deliberativen Mechanismen, die von der Regierung oder der zentralen Verwaltung eines Landes organisiert werden. In Frankreich hat die staatliche Beteiligung ein Monopol auf die partizipative Demokratie. Die französische Verfassung sieht nur Präsidialreferenden (oder Plebiszite) vor, und seit 2015 ist das RIP, das Referendum der gemeinsamen Initiative, fast unmöglich auszulösen. Das Verfahren muss nämlich von einem Fünftel der Parlamentsmitglieder:innen eingeleitet und von einem Zehntel der Wählerschaft unterstützt werden. 

Parallel dazu wurde die Partizipation seit den 90er Jahren institutionalisiert und schon bald einem unabhängigen Gremium anvertraut: der Nationalen Kommission für öffentliche Debatten (CNDP). Mit dem Amtsantritt von Emmanuel Macron im Jahr 2017 nahm die Beteiligung jedoch eine andere Entwicklung und folgte einem unternehmerischen oder sogar präsidialen Ansatz. Das auffälligste Ereignis war zweifellos die Krise der Gilets Jaunes (Gelbwesten) im Jahr 2018. Diese beispiellose soziale Bewegung bestand im Wesentlichen aus Personen aus der Arbeiterklasse, die gegen die steigenden Kraftstoffpreise protestierten. Der Protest entwickelte sich zu einer populären Forderung nach mehr Demokratie und der Forderung nach einem Referendum in Form einer Bürgerinitiative. Als Reaktion darauf organisierte die Regierung eine große nationale Debatte. Diese große Debatte wurde jedoch nicht dem CNDP anvertraut (dessen ursprüngliche Aufgabe es war), so dass die Exekutive die Kontrolle über die Organisation und die Schlussfolgerungen der Debatte behalten konnte. "Und das ist der Knackpunkt: Wir sehen, dass die Exekutive die unabhängige Organisation von Partizipation abschaffen will", erklärt Guillaume Gourgues. 

Die Amtszeit Macrons war bisher durch eine Vielzahl von Beteiligungsverfahren gekennzeichnet. Die derzeitige Exekutive vertritt ein eindeutiges Konzept der Partizipation: Sie muss vom Präsidenten, der Regierung oder der zentralen Verwaltung beschlossen werden, die die Themen, das Format und die Dienstleister:innen auswählen und sogar die Ergebnisse kontrollieren kann. "Dies entspricht einer unternehmerischen Sichtweise im Sinne der Staatsreform: Die Beteiligung muss im Einklang mit einer guten öffentlichen Verwaltung stehen", sagt Guillaume Gourgues. Diese Bürger:innenbefragungen werden in der Regel von privaten Dienstleister:innen organisiert, denen der Staat keine Rechenschaft schuldet: seit 2017 waren dies fast 10 Millionen Euro. "Wir haben es mit einer Form der Beteiligung zu tun, bei der es keine Bürger:inneninitiative und keine unabhängige Stelle gibt, die die Organisation des Ganzen garantiert".

Der Bürger:innenrat zum Thema Klima hat für viel Wirbel gesorgt, weil seine Empfehlungen von der Regierung nicht oder nur in sehr geringem Maße befolgt wurden. Die Bürger:innenräte werden nicht vom CNDP, sondern vom CESE (Wirtschafts-, Sozial- und Umweltausschuss) organisiert, der von der Regierung getrennt ist, aber nicht über die Mittel verfügt, um die Unabhängigkeit der von ihm organisierten Beteiligungsmechanismen zu gewährleisten. "Wenn die Bürger:innenversammlungen in autoritäre institutionelle Praktiken eingebettet sind, welchen demokratischen Spielraum haben sie dann", fragt sich der Professor.

Vor einigen Wochen hat ein Bürger:innenrat über das „Ende des Lebens“ seine Schlussfolgerungen vorgelegt. Das Prinzip war das gleiche wie beim Klimabürger:innenrat, und es ist sicher, dass die Empfehlungen auch nicht von der Regierung in ihren Gesetzentwurf übernommen werden. "Als der Bürger:innenrat über das Lebensende angekündigt wurde, hielt ich sie für eine sehr gute Idee. Historisch gesehen sind deliberative Instrumente erfunden worden, um unlösbare moralische Konflikte zu lösen", sagt Gourgues. Die Frage des Lebensendes ist in der Tat ein besonders heikles Thema, für das "die repräsentative Demokratie nicht ausreicht". Es zeigt sich jedoch, dass die Kritik am Klimabürger:innenrat nicht gefruchtet hat und der Mechanismus unverändert geblieben ist. Betrachtet man die Gesetzgebung und die Anwendungsbestimmungen der Bürger:innenräte, so zielen sie darauf ab, "die Entscheidungsfindung zu erleichtern“. Ihre Rolle ist also unklar, und vor allem deutet nichts darauf hin, dass die Regierung verpflichtet ist, ihre Ergebnisse zu überwachen. Die endgültige Entscheidung liegt allein bei der Exekutive. "Dies ist das Gegenteil von dem, was getan werden sollte, und das Gegenteil von dem, was die Theorie der deliberativen Demokratie besagt. Man kann nicht im Alleingang entscheiden", betont Gourgues.

Reicht das aus, um Bürger:innen und Aktivist:innen davon abzuhalten, am öffentlichen und politischen Leben teilzunehmen? 

Nach Ansicht von Guillaume Gourgues besteht in der Bevölkerung natürlich ein gewisses Misstrauen gegenüber der von der derzeitigen Regierung organisierten staatlichen Beteiligung. Als Beispiel führt er die bereits erwähnte große nationale Debatte an, die im Zuge der Krise der Gilets Jaunes (Gelbwesten) organisiert wurde: Die Bürger:innen, die an dieser Konsultation teilgenommen haben, sind soziologisch gesehen größtenteils sehr weit von der sozialen Bewegung entfernt und stehen eher den Wählerschaften der Macronisten nahe. 

Das bedeutet jedoch nicht, dass die Bürger:innen weniger bereit sind, sich im öffentlichen Leben zu engagieren. Am Beispiel der Gelbwesten zeigt sich, dass diese Bewegung Menschen zusammengebracht hat, die sich normalerweise nicht oder nur selten politisch engagieren. Diese Bürgerinnen und Bürger haben sich nicht nur schnell mobilisiert und engagiert, sondern auch schnell demokratische Werte in den Mittelpunkt ihrer Forderungen gestellt. "Wir müssen die Forderung nach einem Bürger:inneninitiativreferendum (RIC) sehr ernst nehmen, denn sie hat eine sehr starke demokratische Vorstellungskraft", sagt der Forscher. Es ist dieselbe Dynamik, die wir bei der Rentenbewegung feststellen. Und dennoch gibt es nichts, was diesem Volksbegehren, das über keine institutionellen Mittel verfügt, um sich Gehör zu verschaffen, gerecht werden könnte. "Heute gibt es in Frankreich keine Bürger:inneninitiativen, was das Thema Beteiligung angeht", bedauert der Befragte.

"Die Tatsache, dass eine soziale Bewegung von solchem Ausmaß, von der wir dachten, sie sei in Frankreich für immer verloren, sich in einem Moment wiederfindet, in dem wir uns auf eine demokratische Lösung zubewegen sollten und dies nicht möglich ist, weil die Regierung die Instrumente der Beteiligung kontrolliert, verstärkt den Eindruck einer Sackgasse, einer institutionellen Sackgasse."

Was tun wir also? 

Der Protest gegen die Rentenreform ist in gewisser Weise zu einem Protest gegen die V. Republik selbst geworden. Für Guillaume Gourgues liegt die kurzfristige Lösung der politischen Krise auf der Hand: Da die Rentenreform nicht dringlich ist, muss sie durch eine breitere Bürger:innenbeteiligung auf den Prüfstand gestellt werden, wobei die Gewerkschaften eine wichtige Rolle spielen. Aber die Regierung scheint nicht bereit zu sein, einen Rückzieher zu machen (oder einen Kompromiss zu schließen), und alle Appelle der Opposition sind gescheitert. 

Was bleibt den Aktivist:innen und Bürger:innen angesichts dieser institutionellen und politischen Sackgasse? Nach Ansicht des Forschers gibt es mehrere Auswege, die beschritten werden können. Eine der ersten Antworten, die Guillaume Gourgues gibt, ist der zivile Ungehorsam, der von einem Teil der Bevölkerung gewählt wird (unabhängig davon, ob er von der Mehrheit gebilligt wird oder nicht), d.h. Aufrufe zu Generalstreiks oder Demonstrationen (gewaltsam oder nicht, genehmigt oder nicht). Die soziale Bewegung sollte ihre Forderungen auch auf die Forderung nach mehr Mitbestimmung ausrichten, denn dies ist das grundlegende Problem, das angesprochen wird. Dies ist die Rolle, die die soziale Bewegung spielen kann, indem sie dafür eintritt, dass "die Beteiligung ein gemeinsames Gut ist, ein öffentliches Gut wie das Wahlsystem, wie die Pressefreiheit, wie die Grundfreiheiten", erklärt der Professor. Auf dieser Grundlage sollten konkrete Vorschläge für die politischen Parteien und die breite Öffentlichkeit erarbeitet werden. "Wir müssen eine gemeinsame Reformagenda zum Thema Partizipation erstellen, indem wir definieren, welche Partizipation wir wollen und welche nicht".

Es müssen institutionelle Bedingungen geschaffen werden, die den Regierungen auferlegt werden und sie zwingen, den Prozess der Partizipation und der öffentlichen Debatte zu durchlaufen, bevor sie Gesetze zu solch wichtigen Themen erlassen. Dazu müssen wir den Weg für eine Politisierung der Beteiligung in Frankreich ebnen. Mit anderen Worten, wir müssen eine politische Debatte darüber führen, was Partizipation in Frankreich ist, was wir mit ihr machen wollen und wofür die Ergebnisse der partizipativen Mechanismen verwendet werden sollen. Die politischen Parteien, und insbesondere die linken politischen Kräfte, tragen in diesem Prozess eine Mitverantwortung. Sie sollten ein alternatives politisches Modell vorschlagen, das auf einer breiteren partizipativen Demokratie basiert, um auf die Nachfrage der Bevölkerung zu reagieren und eine echte politische Debatte zu diesem Thema anzuregen. Nach Ansicht von Gourgues sind die von der Linken regelmäßig vorgebrachten Vorschläge, wie die Reform der Verfassung, die Veränderung der Republik oder die Forderung nach "mehr Raum für den Bürger", noch sehr vage. 

Dies ist ein entscheidender Moment für die Zukunft der partizipativen Demokratie (und der Demokratie im Allgemeinen) in Frankreich. In anderen Ländern, insbesondere in Europa, gibt es Systeme, die als Inspirationsquelle dienen könnten, wie etwa in Irland oder Deutschland. Viele Akteur:innen müssen bei diesem möglichen Übergang eine Rolle spielen, allen voran die Bürger:innen. Schließlich können wir heute am Beispiel der Vereinigten Staaten zum Thema Abtreibung sehen, dass die partizipative Demokratie auch eine Bedrohung für die Menschenrechte und Grundfreiheiten sein kann. "Mein Ziel ist es nicht, die Situation unnötig zu dramatisieren, sondern zu beschreiben, was geschieht. Ein autoritärer oder sogar sehr autoritärer Einsatz von Partizipation ist durchaus mit dem Einsatz selbst der ausgefeiltesten partizipativen Mechanismen vereinbar. Es reicht nicht aus, auf Mechanismen zurückzugreifen, so sympathisch sie auch sein mögen, um auf den Grad der Demokratie in einer Gesellschaft oder einem Staat einzuwirken". Die Gefahr des Erstarkens der extremen Rechten in Frankreich ist eine Realität, und die bestehenden präsidentiellen Partizipationsmechanismen könnten eine offene Tür für die Gefährdung der Grundrechte darstellen. Es ist unsere Aufgabe als Bürger:innen, stets wachsam zu sein, um die Zukunft der Demokratie in unserem Land zu sichern.
 

Empfohlene Lektüre zur Vertiefung:

- Gourgues. “Les faux semblants de la participation”, La Vie des Idées, 11 avril 2023 https://laviedesidees.fr/Les-faux-semblants-de-la-participation#.ZDVUJIH...

- Gourgues, Mazeaud. « Une « participation d’Etat » sous contrôle. La neutralisation décisionnelle des dispositifs participatifs en France », Revue Française de Science Politique, (74-5) (2023)

- Lee, Caroline W., McQuarrie, Michael and Walker, Edward T.. “Democratizing Inequalities: Dilemmas of the New Public Participation”  (2015) 

- Schäfer, Armin and Wolfgang Streeck. “Polit

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