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Die Wiederbelebung eines lokalen brasilianischen Instruments der Demokratie

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Senator Humberto Costa. Credit: Waldemir Barreto/Agência Senado. Courtesy Senado Federal do Brasil a

Die Wiederbelebung eines lokalen brasilianischen Instruments der Demokratie

10-11-2023

Brief aus Brasilien über Entstehung, Niedergang und Wiederbelebung des Bürger:innenhaushalts.

ÜBER DEN AUTOR: Humberto Costa ist Psychiater und vertritt den Bundesstaat Pernambuco im Bundessenat Brasiliens.

 

Eine der größten demokratischen Erfindungen der Welt steht in meinem Heimatland Brasilien – also an dem Ort, wo sie erschaffen wurde – vor einem großen Comeback.

Die Geschichte des Aufstiegs, des Niedergangs und der Wiederbelebung dieser Innovation bietet Erkenntnisse für die ganze Welt.

Der Bürger:innenhaushalt ist eine brasilianische Erfindung, die erstmals 1990 in Porto Alegre eingeführt wurde. Im Rahmen des Bürger:innenhaushaltes trafen sich Brasilianer:innen und entschieden selbst, wie Teile des Gemeindebudgets ausgegeben werden sollten.  Solche Entscheidungen waren zwar nicht immer einfach, aber den Menschen gefiel es, die Macht zu haben. So verbreitete sich mit der Unterstützung der Arbeiter:innenpartei – der ich angehöre – schnell die Idee des Bürger:innenhaushaltes in andere Städte.

Damals war die Arbeiter:innenpartei auf nationaler Ebene nicht mehr an der Macht. Dennoch hatte unsere Partei viele Mitglieder, die auf der lokalen Ebene tätig waren, zum Beispiel als Bürgermeister:innen oder Gouverneur:innen. Der Bürger:innenhaushalt war Teil unserer Bemühungen, mehr Brasilianer:innen an ihrem Wohnort lokalpolitisch miteinzubeziehen.

In den 2000er Jahren habe ich die Umsetzung des Bürger:innenhaushalts in meiner Heimatstadt Recife, der Hauptstadt der nordöstlichen Provinz Pernambuco, selbst miterlebt. Wir haben solche Haushalte ausführlich auf der Ebene von Stadtvierteln genutzt, so dass sich diese selbst ihre Prioritäten in Bezug auf Ausgaben und Projekte setzen konnten.

Zu der Zeit arbeitete ich in der Regierung an Gesundheitsfragen – und wir waren von den Entscheidungen der Menschen fasziniert und oft auch überrascht. Vielmal stellten wir fest, dass die Prioritäten der Bevölkerung ganz andere waren, als wir ursprünglich vermutet hatten.

Beispielsweise gingen wir davon aus, dass mehrere Stadtviertel den Bau eines Gesundheitsbüros oder einer Klinik priorisieren würden. Im Prozess eines Bürger:innenhaushalts gaben die Bewohner:innen jedoch an, lieber ein Programm namens „City Gym“ zu erweitern, welches Raum für Freizeitbeschäftigung und Sport bietet.

Mit dem Bau eines City Gyms bekamen die Bürger:innen einen Ort, an dem sie ihrer Gesundheit nachgehen, joggen und spazieren gehen und Freund:innen treffen können. Die Bürger:innen wünschten sich zudem Sportgeräte. Der Bürger:innenhaushalt gab ihnen die Macht und Möglichkeit, solche Wünsche zu realisieren. Auch die Gesundheit der Gemeinden schien sich zu verbessern – Stress und Diabetesrisiko sanken. In einem internationalen Gutachten wurde das "City Gym"-Programm anderen Ländern weiterempfohlen.

Durch Bürger:innenhaushalte wurde denjenigen von uns, die im Gesundheitswesen arbeiten, klar, dass wir den Menschen mehr zuhören müssen. Wir stärkten andere von der Bevölkerung gewünschten Programme – wie zum Beispiel das  Familiengesundheitsprogramm, welches aus einem nationalen Team von Ärzt:innen besteht und landesweit die Grundversorgung leistet. Ebenso haben wir gelernt, dass wir mehr mit Menschen in den Austausch treten müssen, wenn wir sie davon überzeugen wollen, Geld in einen bestimmten Bereich zu investieren.

Laut einem für Bürger:innenhaushalte bestimmten Atlas war dieser Prozess in den brasilianischen Gemeinden so erfolgreich, dass er sich weltweit auf über mehr als 11.000 Gemeinden ausgebreitet hat. Bürger:innenhaushaltsprozesse haben zudem viele Preise für Innovation und Engagement gewonnen.

Doch in Brasilien, dem Geburtsland des Bürger:innenhaushalts, hat dessen Verbreitung nachgelassen. Woran liegt das? Es gab Widerstand von Seiten der Beamt:innen, die keine Macht an die Bürger:innen abgeben wollten oder die die Einführung des Verfahrens schwierig fanden. Und die Prioritäten meiner Partei änderten sich. Als wir die Präsidentschaftswahlen gewannen und Macht auf der nationalen Ebene übernahmen, verloren wir das Interesse an den Rathäusern und den Landesregierungen.

Das war ein riesiger Fehler. Als die Bürger:innenhaushalte nachließen, wurden Menschen weniger engagiert und weniger organisiert. Das führte dann dazu, dass Menschen nicht mehr in der Lage waren, Widerstand zu leisten als Rechtsextreme an die Macht gekommen sind. Demokratie braucht eben Übung.

Die Arbeiter:innenpartei hat gerade die Präsidentschaft zurückgewonnen. Aber dieses Mal werden wir unseren Fehler nicht wiederholen. Ich bin jetzt Senator, und der Bürger:innenhaushalt und ähnliche demokratische Programme sind ein wichtiger Teil von dem, woran wir arbeiten.

Tatsächlich bereitet unser neuer Präsident Lula ein Bürger:innenhaushaltsprogramm für das ganze Land vor. Solche Programme sind auf der Bundesebene ein wichtiges Thema, und wir hoffen darauf, sie für vierjährige Planungshaushalte anwenden zu können.

Ich würde mir wünschen, dass solche Haushalte in allen Staaten und Kommunen in größerem Umfang zur Entscheidungsfindung genutzt werden. Eine derartige Bürger:innenbeteiligung könnte dabei helfen, bessere Prioritäten bei der Bekämpfung von Problemen in Bereichen der Gesundheit, Bildung und öffentlichen Sicherheit zu setzen.

Es wird nicht einfach sein, diesen Prozess auf der nationalen Ebene in Gang zu setzen. Es wird einige Zeit dauern. Aber es ist ein wichtiger Schritt. Es ist Zeit, diese typisch brasilianische Idee wiederzubeleben, damit Brasilianer:innen wieder ihre eigenen Prioritäten setzen und ihre eigenen Entscheidungen über die Zukunft treffen können.

 

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