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Krise der Demokratie: "Es ist noch nicht zu spät"

Krise der Demokratie: "Es ist noch nicht zu spät"

26-08-2016

Manfred Nowak, Professor für Internationales Recht und Menschenrechte in Wien und Venedig, im Gespräch mit Democracy International über den Zusammenhang von Rechtsstaat, Demokratie und Menschenrechten und die jüngsten politischen Ereignisse in der Türkei.

Laut Manfred Nowak gibt es derzeit weltweit eine Krise von Demokratie und Rechtsstaat, die mit der wachsenden ökonomischen Ungleichheit zu begründen ist.

Der gebürtige Österreicher war von 2004- 2010 UNO-Sonderberichterstatter über Folter.

Interview: Cora Pfafferott

Die englische Übersetzung finden Sie hier

 

Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaat werden oft in einem Atemzug genannt. Wie hängen diese drei Begriffe für Sie zusammen?

Diese Begriffe hängen sehr eng miteinander zusammen. Dabei sind die Menschenrechte der erste Anknüpfungspunkt für die Wahrung von Demokratie und Rechtsstaat. Sie gewähren politische Rechte wie Wahlen, und auch gewähren sie Freiheiten wie die Meinungs-, Medien-und Versammlungsfreiheit. Alle diese Freiheiten sind essentiell für eine Demokratie.

Dazu kommt auch der Gleichheitsgrundsatz. Demokratie gelingt nur, wenn Gleichheit gewährleistet ist. Dazu gehört zum Beispiel der Schutz von Minderheiten und benachteiligten Gruppen. Das heißt Demokratie ist in den Menschenrechten abgesichert. Das gleiche gilt für den Rechtsstaat. Er versichert das Recht auf gleichen Zugang zu Gerichten und das Recht auf ein faires Verfahren. Das staatliche Handeln ist damit rechtlich festgesetzt. In Demokratien sind Menschenrechte weitaus besser geschützt als in Diktaturen und Polizeistaaten.

Viele zumeist westliche Stimmen sehen Demokratie und Rechtsstaat in der Türkei gefährdet. Nach dem gescheiterten Putschversuch vom 15./16. Juli rief Präsident Erdogan zu Demokratie-und Märtyrerversammlungen auf. Am 7. August feierte er mit seinen Anhängern einen „Siegeszug der Demokratie“.

Bei diesen unterschiedlichen Sichtweisen, wie beurteilen Sie die Entwicklungen in der Türkei?

Der gescheiterte Putsch ist zu verurteilen, er wäre der Demokratie zum Verhängnis geworden. Ein Militärputsch ist die klassische Antithese zu einer Demokratie. Es darf nicht sein, dass eine Militärregierung ohne demokratische Legitimation an der Macht ist.

Gleichzeitig sind die Freiheiten der Demokratie in der Türkei massiv in Gefahr. Präsident Erdogan schränkt schon seit längerer Zeit die Medien- und Pressefreiheit und die Parteienfreiheit ein. Die Kurden werden unterdrückt, also der Schutz von Minderheiten wird nicht geachtet. Das sind starke autoritäre Tendenzen, die die Rechte der Europäischen Menschenrechtskonvention sehr stark strapazieren.

Eine Demokratie braucht eine offene und freie Gesellschaft, in der sich kein Mensch fürchten darf, am nächsten Tag festgenommen zu werden. Doch schon seit längerer Zeit entwickelt sich die Türkei in die Richtung eines autoritären Staates. Die Türkei ist auf dem besten Weg, von einer Demokratie in eine Diktatur überzugehen.

International ist die Türkei kein Einzelfall. In Ländern wie Polen und Ungarn ist ebenso zu beobachten, dass Rechtsstaat und Demokratie ausgehöhlt werden. Ist das ein weltweiter Trend?  

Ja. Man muss diese Entwicklungen in einem größeren Zusammenhang sehen. Wir befinden uns weltweit in der größten globalen Krise seit dem Ende des 2. Weltkriegs. Dazu gehören globale Wirtschafts- und Finanzkrisen, Klima-, Umwelt- und Nahrungsmittelkrisen, "failed States", organisierte Kriminalität, Gewalt, Terrorismus, bewaffnete Konflikte, Politikverdrossenheit, der Ruf nach dem "starken Mann" und eine Geringschätzung demokratischer Entscheidungs- und Konfliktlösungsmechanismen.

Diese Krisen sind sehr tiefgreifend, haben verschiedene Ursachen und bedingen einander. Es ist daher sehr schwer, die richtigen Maßnahmen zu setzen, um diesen Teufelskreis zu durchbrechen.

Wie erklären Sie diese Krisen?

Ich erkläre sie vor allem mit der neoliberalen Ordnung. Heute gibt es eine sehr große ökonomische Ungleichheit, die dazu führt, dass der Zusammenhalt in den Staaten zerbröckelt. Viele Staaten sind aufgrund neoliberaler Strategien nicht mehr in der Lage, das zu liefern, was man von einem funktionierenden Staat erwartet.

By Gobierno de Chile [CC BY 2.0], via Wikimedia Commons

Der französische Ökonom Thomas Piketty hat in seinem Buch „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ gezeigt, dass der demokratische Grundkonsens einer Bevölkerung zerfällt, wenn die ökonomische Ungleichheit in Einkommen und Vermögen eine bestimmte Größe annimmt.

Wenn die Bevölkerung das Gefühl hat, dass man sich nicht mehr durch Arbeit ein gutes Leben verdienen kann, dann zerfällt dieser Grundkonsens, und es kommt zur Krise der Demokratie. Das können wir gegenwärtig weltweit aber auch in Europa beobachten. Die demokratische Auseinandersetzung wird viel härter, rechtsextreme und populistische Parteien polarisieren. Doch in einer Demokratie brauchen wir Konsens und Kompromisse.

Was ist für Sie das wirkvollste Mittel, um Demokratie und Rechtsstaat zu stärken?

Es ist unheimlich wichtig, dass wir eine Ungleichheitsdebatte führen. Die Staaten müssen der neoliberalen Entwicklung entgegenwirken, um wieder mehr Gleichheit herzustellen, weil diese eine funktionierende Voraussetzung für eine Demokratie ist. Im Wesentlichen geht es darum, auf der ökonomischen Seite entgegenzusteuern. Die Menschen müssen den politischen Systemen vertrauen können, dass diese die Wirtschaft reglementieren können.

Zudem müssen wir den radikalisierenden Diskurs in den Griff bekommen. Das kann auch bedeuten, dass demokratiegefährdende Parteien verboten werden müssen. Eine Demokratie muss sich gegen ihre Feinde effektiv zur Wehr setzen können.

Der Neoliberalismus steht für die Deregulierung des Staates und die Privatisierung des öffentlichen Sektors. Wenn die ökonomische Ungleichheit aufgrund des Neoliberalismus zunimmt, haben Politiker dann noch das Heft des politischen Handelns in der Hand?

Die Politik des Neoliberalismus ist nicht vom Himmel gefallen, sondern eine bewusste Politik seit den 70er Jahren, die von der „Chicago School“ beeinflusst wurde. Politiker wie Ronald Reagan und Margaret Thatcher haben sich in den 80er Jahren bewusst für Privatisierungen und die Minimierung des Staates entschieden. Das hat definitiv den Staat geschwächt, und viele Staaten sind nicht mehr in der Lage, die globalen Finanznetzwerke in den Griff zu bekommen.

Doch es ist noch nicht zu spät. Auf internationaler Ebene können die Politiker im Internationalen Währungsfonds, der Weltbank und der Welthandelsorganisation die Macht zurückgewinnen. Denn sie stellen dort die Weichen. Jetzt besteht noch die Chance, den globalen Märkten Einhalt zu gebieten und wieder mehr Regulierungen zu fordern.

Die Europäische Union sollte dabei eine Pionierrolle einnehmen und einen Schritt voran gehen. Sie ist ein großer Markt und geprägt von einer Tradition des Wohlfahrtsstaates. Wenn die EU wieder mehr auf Regulierung setzt, besteht Hoffnung, dass auch China, Indien oder sogar die USA auf diesen Zug aufspringen.  

Sie waren sechs Jahre lang UNO-Sonderberichterstatter über Folter und haben deshalb viele Länder der Welt bereist. Wenn Sie nächsten Monat in ein Land fahren müssten, um Demokratie und Menschenrechte "zu retten" – in welches Land würden Sie reisen?

Ich brauche nicht weit zu reisen, ich kann in meinem eigenen Land in Österreich bleiben. Dort gibt es durchaus Tendenzen, die Demokratie und Rechtsstaat gefährden. Am 2. Oktober steht in Österreich die Wiederholung der Präsidentschaftswahl an. Falls dort der Kandidat der Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ) zum Präsidenten gewählt wird, dann könnte es zu Neuwahlen kommen mit der Konsequenz, dass die FPÖ den Kanzler stellt. Dann hätten wir den ersten rechtspopulistischen Präsidenten in der EU. Das wäre für mich sehr rechtsstaats- und demokratiegefährdend.

Das gleiche Szenario könnte sich in Frankreich oder anderen europäischen Staaten ereignen. Wir müssen gar nicht weit reisen. Es gibt in Europa genug zu tun, um Demokratie und Rechtsstaat zu stärken.   

Vielen Dank!

Das Gespräch führte Cora Pfafferott am 23.08.2016

Nachweis des Titelbilds: UN Photo/ Pierre Virot, leicht bearbeitet, siehe Quelle hier

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